„Der Islam“ in Deutschland, sofern man überhaupt von einem Islam sprechen kann, steht seit 2015 im Mittelpunkt intensiver Debatten. Nicht erst durch die „Flüchtlingskrise“ geriet der Islam abermals in den Fokus der medialen Öffentlichkeit, wurde über eine „richtige“ Integration der meist muslimischen Einwanderer gesprochen und kontrovers diskutiert. Allein, so umstritten die Formen, der Umfang und die Ziele einer gelungenen Integration waren und weiterhin sind, so offen, unterschiedlich und umkämpft sind die Vorstellungen davon, wie es um die aufnehmende Gesellschaft eigentlich beschaffen sein sollte. So hat auch die Debatte um den Begriff der „Leitkultur“ in den letzten Jahren merklich an Konjunktur und Schärfe gewonnen. Überdies hat diese Debatte mit der Alternative für Deutschland (AfD), die mit einem islamskeptischen und auch -feindlichen Programm zur Bundestagswahl antritt und sich den Satz: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, in den Programmentwurf zur Bundestagswahl geschrieben hat,[1] direkten Eingang in den aufkommenden Bundestagswahlkampf gefunden. Der Islam braucht daher gerade jetzt eine neben dem Christen- und Judentum gleichberechtigt starke Stellung als religiöser Interessenverband in der deutschen Politik. Die Gründe dafür sind vielfältig.
In der Türkei vollziehen sich die politischen Entwicklungen zurzeit in einer Geschwindigkeit und Intensität, die sich kaum noch erfassen lassen. Die alte, kemalistische Republik Türkei scheint es nicht mehr zu geben – so stark sind die institutionellen und politisch-kulturellen Veränderungen unter der seit 2002 ununterbrochen und allein regierenden Partei für Aufschwung und Gerechtigkeit (AKP) vorangeschritten. Von Europa und den USA aus wurde der rapide Aufstieg der AKP in den frühen 2000er Jahren zunächst sehr skeptisch verfolgt; doch wegen ihres strikten wirtschaftsliberalen Reformkurses und einer pro-europäischen Haltung wurde die Türkei unter der AKP zum Musterland für Westasien („Naher Osten“) und Nordafrika auserkoren. Endlich, so der langjährige Tenor in Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft, sei eine funktionierende Mischung aus westlicher Demokratie und Liberalismus, ökonomischer Öffnung und konservativ-islamischen Werten gefunden worden, mithin entwickle sich die Türkei zur Brücke zwischen „Okzident“ und „Orient“.
→ weiter lesen[analysiert]: Thorsten Hasche über die Parlamentswahlen in der Türkei
Vergangenen Sonntag kam es bei den türkischen Parlamentswahlen, dreizehn Jahre nach dem ersten Wahlsieg der AKP, zu einem kleinen politischen Erdbeben: Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung verlor erstmalig ihre absolute Parlamentsmehrheit. Trotz der massiven medialen Dauerpräzens der AKP und ihres Führungsduos, Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, konnte die pro-kurdische HDP (Demokratische Partei der Völker) die 10-Prozent-Hürde überspringen. Zusammen mit der dezimierten CHP (Republikanische Volkspartei) und der rechten MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) ziehen nun insgesamt vier Parteien in die Große Nationalversammlung der Türkei ein. Somit ist die erfolgsverwöhnte und stets dominant-aggressiv auftretende AKP auf einen Koalitionspartner angewiesen und muss sich wohl gänzlich von ihrem Projekt einer Verfassungsänderung zugunsten eines – gerade von Erdoğan stets bevorzugten – Präsidialsystems verabschieden.
Am Abend des 12. Juni 2011 wird Ministerpräsident Erdoğan vor die türkische Presse treten und im Blitzlichtgewitter den Wahlsieg seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP zelebrieren. Auf diese Weise endeten jedenfalls bereits die letzten beiden Parlamentswahlen der Jahre 2002 und 2007. Laut der verschiedenen Wahlprognosen wird sich auch am kommenden Wahlsonntag daran nichts ändern. Doch trotz eines erneuten Wahlsieges könnte sich die AKP ebenso als Verliererin fühlen – dies hoffen zumindest die politischen Oppositionellen. Die entscheidende Frage bei dieser Wahl ist demnach nicht, ob die AKP gewinnt, sondern ob sie eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erreicht.
→ weiter lesenDie Presse ist neben Legislative, Exekutive und Judikative als sogenannte „Vierte Gewalt“ ein essentieller Bestandteil einer wehrhaften Demokratie. Am 3. Mai wird sie deshalb weltweit für ihre aufklärerische, investigative und stabilisierende Funktion geehrt. Initiatorin dieses internationalen Tages der Pressefreiheit ist seit 1993 die UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur). Anlässlich des Jahrestags soll ein kritischer Blick auf die Türkei geworfen werden, um herauszufinden welchen Stellenwert die Meinungs- und Pressefreiheit beim EU-Beitrittskandidaten innehat.
→ weiter lesenAm 28. Februar 1997 entmachtete das türkische Militär den damaligen ersten islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan. Fast genau 14 Jahre später, am 27. Februar 2011, ist der „Vater“ des türkischen politischen Islams im Alter von 84 Jahren gestorben. Über Jahrzehnte beeinflusste das politische Schwergewicht die gesellschaftlichen und politischen Debatten und Prozesse in der Türkei.
→ weiter lesenDie vergangenen Wochen haben die westliche, vor allem aber die arabische Welt überrascht. Die zementierte Macht der autoritären Despoten in Tunis und Kairo zerbarst zu Staub. Eigentlich müssten wahre Freudenschreie durch das politische Europa und die USA hallen – doch die Jubelrufe klingen etwas verhalten.
→ weiter lesenDie Sieger könnten unterschiedlicher nicht sein. Am 12. September 1980 hieß der Sieger Kenan Evren, kemalistischer General und Putschist. Genau dreißig Jahre später heißt der Sieger Recep Tayyip Erdoğan, Führer der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP und Ministerpräsident der Türkei.
Was beide gemein haben: Sie brachten Verfassungsreformen auf den Weg, welche das Land eher spalten als vereinen.
Du bezeichnest in deinem Titel deines Buches die aktuelle Regierung als „Erben Atatürks“. Wie kommst du zu diesem Schluss?
Der Titel Atatürks islamische Erben soll den kausalen Zusammenhang zwischen Atatürks politischem Vermächtnis und der Politik der religiös-konservativen AKP-Regierung verdeutlichen. Atatürk selbst und seine politischen Erben wollten die Republik nach Europa führen und dessen zivilisatorische Errungenschaften übernehmen. Aus Angst vor religiösen oder politischen Reaktionären erlagen die kemalistischen Machthaber jedoch der Versuchung, die Demokratie in ihre, für sie dienliche, Bahnen zu lenken. Erhebliche Demokratiedefizite in Verfassung und Rechtsstaat waren die Folge. Erst die islamisch verwurzelte AKP durchbrach 2002 den Teufelskreis aus alten elitären Machtstrukturen und gegängelter Demokratie und forcierte die Annäherung an die EU.