Die Deutschen erleben gerade eine demokratische Ambiguität. Und sie tun sich nicht leicht damit. Sie genießen, auf der einen Seite, die gewachsene Vielfalt an Marktoptionen und individuellen Rollenentscheidungen. Aber sie reagieren, auf der anderen Seite, verunsichert darauf, dass sich die gesellschaftliche Enthomogenisierung nun auch in das Parteiensystem übersetzt. Denn zersplitterte Parteiensysteme erschweren Kooperation und Koalition, auf deren Gelingen aber gerade fragmentierte Gesellschaften elementar angewiesen sind.
→ weiter lesenDie gesellschaftliche Polarisierung in den USA nimmt zu. Politisch trennen Demokraten und Republikaner oftmals Welten, doch auch sozialkulturell treiben die Lager auseinander: Republikaner wohnen in anderen Vierteln, interessieren sich für andere Sportarten und kaufen andere Autos und Limonaden als Demokraten. Dies verändert nicht nur die sozialen Identitäten in den jeweilgen Lagern, sondern verschiebt auch die Bedingungen für Wahlen und Politik. Lilliana Mason, Professorin an der University of Maryland, erklärt im Interview mit Dr. Torben Lütjen die Entwicklung und Ursachen dieser Entwicklung und die Folgen für den laufenden US-Wahlkampf. Mason hat am 02.06.2016 den dritten Vortrag in unserer Veranstaltungsreihe zu den US-Wahlen 2016 gehalten, im Video fasst sie ihre Forschungsergebnisse knapp zusammen.
Video: Robert Müller-Stahl, Christoph Hoeft und Alex Hensel
→ weiter lesenGut gelaunt nippt Uwe Junge, Landesvorsitzender und Spitzenkandidat der rheinland-pfälzischen AfD, am ausklingenden Wahlabend in Mainz an seinem Bier. „Nun haben wir ein Gegengewicht zum Osten“, erklärt er mir munter, schließlich habe die AfD an diesem Tag auch in Westdeutschland ihre Stärke bewiesen. In der Tat markieren die Einzüge der AfD in den rheinland-pfälzischen und den baden-württembergischen Landtag eine Zäsur: Bis dato lediglich und auch eher spärlich in den Bürgerschaften Hamburgs und Bremens vertreten, standen westdeutsche Landesverbände bislang im Schatten ihrer ostdeutschen Pendants. Die thüringische AfD um Björn Höcke verwandelte den Erfurter Domplatz mit mehreren hundert Anhängern in eine Art politisiertes Volksfest, die vierköpfige Bremer AfD-Fraktion sich selbst im Zuge der Parteispaltung in eine heillos überforderte „One-Man-Show“[1]. Im Osten laut, schrill und erfolgreich, im Westen blass, moderat und schwach – die Rollen schienen eindeutig verteilt. Doch inwiefern entspricht die rheinland-pfälzische AfD – zumal im Moment des Erfolges – tatsächlich ihrem Klischee? Ein Besuch.
Du hast in Deiner Arbeit aktuelle Bürgerproteste in ganz Deutschland untersucht und dabei speziell die Organisatoren und die besonders engagierten Aktivisten in den Blick genommen. Worum ging es Dir dabei?
Ich habe mich in meiner Arbeit auf die Suche nach den gesellschaftlichen sowie individuellen Kerninhalten der Proteste gemacht. Es ging mir weniger um den konkreten Anlass als vielmehr um den roten Faden zwischen zeitgenössischen Protesten und der Frage, warum man sich für gerade diese Form des Engagements entscheidet. Da lag es nahe, sich die besonders engagierten Aktivisten anzuschauen, weil sich bei ihnen vieles von dem, was Proteste heute bedeuten, zuspitzt.
Immer mehr Menschen bringen politischen Parteien immer weniger Vertrauen entgegen und äußern direkt und ungefiltert ihre politischen Anliegen. Von Stuttgart 21 über Proteste gegen Bildungsreformen, Windkraftanlagen bis hin zu Occupy. Die parlamentarische Demokratie, wie wir sie in Deutschland seit 1949 kennen gelernt haben, lebte in ihrer enormen Stabilität auch von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen konnte – die Verankerung der Menschen in sozialmoralischen Milieus. Im Zuge von Bildungsexpansion und Individualisierung ist demgegenüber eine direkte Wirkungserwartung vieler Menschen gewachsen. Die Akzeptanz demokratischer Kompromisse und Koalitionen hat es hier schwer. Was dies für Probleme für die gesellschaftliche Interessensaushandlung mit sich bringt, wer die Aktiven von Protesten und Bürgerinitiativen sind und was sie antreibt, nimmt unser Mitarbeiter Felix Butzlaff in seinem Buch über die „neuen Bürgerproteste“ in den Blick.
→ weiter lesenÜber Jahrzehnte war Polen die Gesellschaft mit der stärksten pro-europäischen Orientierung in der EU. Dies war nicht immer unproblematisch: Denn während Demokratie und Marktwirtschaft als strukturgebende Elemente der überwiegenden Mehrheit bis 1989 nur vom Hörensagen bekannt gewesen waren, stiegen die Erwartungen an diese horrend an. Heute kann man sagen, dass diese besonders bei sozial schwächeren Gesellschaftsschichten enttäuscht worden sind. Auch ist das Verständnis von der Europäischen Union, deren Institutionen und Funktionsweisen zwölf Jahre nach dem EU-Beitritt weitgehend schleierhaft geblieben sind nicht zuletzt eine Folge einer idealisierten Betrachtung aus der Ferne. Dass auch im alten Europa über Lösungen stets gestritten worden ist und die komplexen europäischen Krisen mit ihren Aporien – Eurokrise, Flüchtlingskrise, „Brexit“ – auch heute kein Todesurteil für das durchaus geschwächte Projekt Europa bedeuten müssen, erscheint jedenfalls im Osten der EU schwieriger nachvollziehbar.
[analysiert]: Florian Finkbeiner, Julian Schenke, Katharina Trittel, Christopher Schmitz und Stine Marg über die jüngsten Entwicklungen der Protestbewegung
Die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ beschäftigen seit Monaten die Republik. Im ersten Halbjahr 2015 zogen mehrere Forscherteams, darunter das Göttinger Institut für Demokratieforschung[1], nach Dresden, um die damals noch junge Protestbewegung zu untersuchen. Zwischenzeitlich schien PEGIDA über Personalwechsel, Skandale und sinkende Teilnehmerzahlen zu stürzen, kaum mehr wurde die Masse an Demonstrierenden erreicht, die vor etwa einem Jahr Medien, Politik und Protestforscher aufhorchen ließ. Dennoch: Die montäglichen Demonstrationen erfreuen sich einer unverminderten Kontinuität mit zum Teil fünfstelligen Teilnehmerzahlen Ende 2015.
In den Debatten über die ideologische Spaltung der USA hat seit einiger Zeit ein Begriff große Konjunktur: „Asymmetrische Polarisierung“. Gemeint ist damit, dass Amerika zwar in der Tat polarisiert sei, die Verantwortung dafür aber nicht bei beiden Seiten gleichermaßen zu suchen sei. Kurz gesagt: Während die Demokraten weiterhin die politische Mitte verkörperten, seien die Republikaner seit geraumer Zeit in den ideologischen Extremismus abgedriftet. Doch diese Deutung stellt allenfalls die halbe Wahrheit des Zustands der amerikanischen Politik dar.
→ weiter lesenClaus Leggewie, Politikwissenschaftler und Politikberater, war Schüler eines Gymnasiums, das „vor gefühlt 200 Jahren auch schon Konrad Adenauer“ besucht hatte und dessen Rektor während Leggewies Schulzeit der eigene Vater gewesen war. Derart geprägt wurde er nach einer „kurzen Verirrung“ zur Jungen Union Teil der APO und erinnert sich an das linke Göttingen seiner Studienzeit, wo er auch promoviert hat, als einen Ort, wo „man das Gefühl hatte, hier ist die Revolution kurz davor“. Hier auch sei sein Glaube geboren worden, dass soziale Bewegungen etwas verändern und wichtige Impulse an die parlamentarische Demokratie geben könnten.
Reykjavík, Mitte August 2015: Eine Stadt sieht Regenbogen. Aufwendig dekorierte Umzugswagen schillern um die Wette mit den fantasievoll geschminkten und gekleideten Teilnehmenden und Zuschauenden der „Reykjavík Pride Parade“. Angeführt wird der Umzug durch Stadtratsabgeordnete aller Parteien, die zusammen ein buntes Reykjavík-Banner durch die Straßen tragen. Dahinter geht Dagur B. Eggertsson, amtierender Bürgermeister, eine riesige Regenbogen-Flagge schwenkend. In den letzten Jahren sorgte sein Vorgänger Jón Gnarr durch Auftritte in Drag für Begeisterung. Jahr für Jahr ist die Parade Höhepunkt des einwöchigen Festivals der LBTIQ+[1]-Gemeinschaft und zeigt, wie weit Island in den letzten Jahrzehnten augenscheinlich gekommen ist, was die Anerkennung von Geschlechtergerechtigkeitsthemen angeht.